
Interviews mit Stephan Orth und Roderich Kiesewetter zum Unabhängigkeitstag der Ukraine
„Ein Diktatfrieden ist kein Frieden“ - Interview mit Roderich Kiesewetter zum Treffen von Trump und Putin in Alaska (HNA, 15. August 2025 - Jörg S. Carl)
Kassel – Er gehört zu den profiliertesten deutschen Außenpolitikern: Roderich Kiesewetter (61/CDU) ist Obmann im außenpolitischen Ausschuss des Bundestages und Ex-Offizier der Bundeswehr. Wir sprachen mit ihm über das Gipfeltreffen zum Ukraine-Krieg.
Nahezu jede Nacht russische Drohnen- und Raketenangriffe auf Ziele in der Ukraine: Gibt es irgendwo einen Funken Hoffnung, dass sich nach dem Treffen in Alaska daran etwas ändern wird?
Der russische Diktator Putin musste sein Verhalten nicht ändern, weil vorhandene Druckmittel gegen ihn bislang nicht eingesetzt werden. Er kann nach wie vor seine Strategie fortsetzen. Sie besteht in der Nichtanerkennung des Existenzrechts der Ukraine, von Belarus, aber auch der baltischen Staaten und Moldau, die alle mal zur Sowjetunion gehört haben. Diese Strategie kann er unbeirrt fortführen, weil er jetzt mehrfach Ultimaten erhalten hat, aus Europa, von Trump, die aber immer ohne Konsequenzen geblieben sind. Deswegen habe ich keine Hoffnung, dass sich nach dem Samstag zugunsten der Ukraine etwas ändert.
Donald Trump hat von Gebietstausch zwischen der Ukraine und Russlandgesprochen, den er für sinnvoll halte, um zu Fortschritten in Richtung Frieden zu kommen. Das klingt beschönigend nach einer Erfüllung des Putin-Wunsches, die Ukraine sukzessive zu erobern. Wie bewerten Sie Trumps Ansatz?
Zunächst einmal ist die Frage, was Trump unter Gebietstausch versteht. Denn die Ukraine verfügt über keine russischen Territorien. Während Russland fünf Gebiete weitestgehend besetzt hat, darunter die Krim vollständig, Cherson und Saporischja teilweise, Donezk und Luhansk zum aller größten Teil. Völkerrechtswidrige Verfassungsänderungen haben diese Territorien zu einem Teil der Russischen Föderation erklärt. Das heißt also, wenn tatsächlich diese Gebiete Russland zugesprochen werden, wenn auch nur de facto und nicht de jure, dann zeigt es anderen aggressiven Staaten, dass man nur konsequent und hartnäckig genug sein muss, bis die westlichen Partner oder die regelbasierten Partner ermüdet sind. Und um das sehr klar zu sagen: Trumps Vorgehensweise unterstützt eindeutig Putin. Trump steht nicht auf der Seite der Ukraine und er steht auch nicht auf der Seite der Europäer.
Waren sie von der Einlassung des Nato-Generalsekretärs Rutte zur in Aus-sicht gestellten De-facto Anerkennung ukrainischen Staatsgebiets alskünftig russisch überrascht?
Ich war nicht überrascht, weil Rutte bereits an den Verhandlungen zu NordStream 2 beteiligt war. Es ist an der Nato-Spitze bewusst jemand ausgesucht worden, der Zugänge nach Russland hat. Und man sieht ja auch an seiner sehr devoten Nachricht an Trump, dass er sich lieber auf die Seite der scheinbar Starken stellt, als die starken Europäer in der Nato zu repräsentieren. Ruttes Vorgehen schadet dem Zusammenhalt der Nato, es schadet der regelbasierten Ordnung, und er schwächt vor allen Dingen die Position der Ukraine, die ja in diesen Verhandlungen nicht nur nicht vorkommt, sondern über die hinweg verhandelt wird.
Sehen Sie denn andere Wege als durch Territoriumsaufgaben seitens der Ukraine zu einem Waffenstillstand oder später dann zu einem Frieden zukommen?
Das ist ja der Kernpunkt: Die Ukraine will keinen Waffenstillstand unter solchen Bedingungen, und auch wir sollten keinen Waffenstillstand um jeden Preis wollen, denn ein Waffenstillstand ist kein Frieden und ist auch nicht zwingend die Voraussetzung für einen Frieden. Voraussetzung für einen Frieden wäre, dass wir begreifen, dass es nicht um einen Frieden im Sinne von Friedhofsruhe geht, sondern um Frieden in Freiheit und Selbstbestimmung. Deshalb bedarf es für diesen Frieden der Stärke.
Was heißt das konkret?
Das bedeutet eine stärkere Bewaffnung der Ukraine, aber auch Maßnahmen, die wir alle auf die lange Bank geschoben haben: etwa das Auftauen des ein-gefrorenen russischen Vermögens und im Rahmen des völkerrechtlich Möglichen dessen vollständige Zurverfügungstellung für die Ukraine. Zweitens die Übernahme der Luftverteidigung über der West-Ukraine, sodass ukrainische Luftverteidigungskräfte frei werden, um sie im Süden und Osten einzusetzen. Drittens ein Anwerfen der europäischen Rüstungsindustrie, um zu einer Massenfertigung zu kommen, unter anderem bei Munition, Abwehrsystemen und Raketenwerfern. Unser militärisches Ziel muss sein, dass die Ukraine alle zulässigen Mittel bekommt, die sie braucht, um ihr Territorium zu befreien.
Sie sprechen von einer Luftverteidigungsübernahme im Westen der Ukraine. Meinen Sie damit die Nato?
Ich meine damit eine Koalition der Willigen, die vom Territorium der baltischen Staaten, Polens und Rumäniens aus die Luftverteidigung mit weitreichenden Luftabwehrsystemen übernimmt. So ist denkbar, dass unbemannte russische Flugkörper, also Raketen und Drohnen, abgeschossen werden, in einem nächsten Schritt auch russische Kampfflugzeuge.
Es heißt, die ukrainische Bevölkerung sei kriegsmüde. Zugleich weigert sich die politische Führung, Gebiete aufzugeben. Ist dieses Dilemma jemals aufzulösen? Die Maxime „Kein Frieden um jeden Preis“ bedeutet ja auch, es wird weiterhin Tausende Opfer geben.
Es gab in der Historie mal einen Spruch bei den Friesen in Norddeutschland, ich mache mir den nicht zu eigen, aber sie sagen: Lieber kämpfen wir für unsere Freiheit, auch wenn wir müde sind, als dass wir sie ganz verlieren. Zu-dem muss Europa bei einem Zerfall der Ukraine klar sein: Millionen Einwohner sitzen auf gepackten Koffern. Russlands Strategie bedeutet auch Flucht und Vertreibung.
Bedeutet fortzusetzender militärischer Beistand auch zu helfen, den Kriegverstärkt nach Russland hineinzutragen?
Ich habe das bereits im Februar 2024 gefordert, und es hat mir sehr viel Ärger eingebracht. Ich stehe aber nach wie vor dazu, weil die Bundesregierung ab Mai 2024 genau dies getan hat. Sie hat mitgeholfen, dass die Ukraine mit weit reichenden Waffen unterstützt wurde. Sie hat zwar nichts geliefert, aber sie hat ihre Vorbehalte dagegen aufgegeben. Es ist völkerrechtlich völlig zu-lässig, dass sich die Ukraine gegen Bereitstellungsräume für den Krieg auf russischem Gebiet wehrt, aber sie erhält zu wenige Mittel dafür.
Bereitstellungsräume? Sie meinen damit rein militärische Ziele.
Ich meine damit militärische Ziele wie Aufmarschräume, Raketenbasen, Panzerstellungen im Hinterland, Flugplätze, Kommandozentralen. Das können aber auch Verwaltungseinheiten, also Behörden, sein, die den Krieg organisieren.
Wenn sich die Ukraine am Ende doch einem Diktatfrieden unterwerfenmüsste, Putin sich also belohnt sähe, worauf müsste sich Europa dann einstellen?
Sie sagen es selbst: Ein Diktatfrieden ist kein Frieden. Und das bedeutet, dass wir Europäer uns darauf einstellen müssen, dass Russland nach einer Erholungsphase, in der es seine Waffendepots auffüllt und die Truppen neu formiert, den Krieg fortsetzen wird: gegen die Ukraine, gegen Moldau, gegen die baltischen Staaten. Parallel dazu wird Russland die kognitive und ökonomische Kriegsführung, also die Umgehung von Sanktionen, aber auch die Beeinflussung unserer digitalen Medien, die Beeinflussung der Zivilgesellschaften unverändert fortsetzen. Wir werden zunächst aufatmen und froh sein –und nicht merken, dass wir hinters Licht geführt wurden.
„Okkupation ist kein Frieden“ - Interview mit Bestsellerautor Stephan Orth über den Alltag in der Ukraine (HNA, 22. August 2025 - Matthias Lohr )
Kassel – Stephan Orth hat die Ukraine mitten im Krieg aus einer anderen Perspektive kennengelernt. Der ehemalige „Spiegel“-Redakteur reiste als Couchsurfer durch das Land, übernachtete in Wohnzimmern und kam mit den Menschen ins Gespräch. Das Buch „Couchsurfing in der Ukraine“ ist ein Bestseller. An diesem Sonntag, dem Unabhängigkeitstag der Ukraine, stellt der Journalist es auf Einladung der Initiative „Offen für Vielfalt“ im UK 14 in Kassel vor. Wir sprachen mit ihm.
Herr Orth, beginnen wir mit der schwierigsten Frage: Wie kann es nach dreieinhalb Jahren russischem Angriffskrieg in der Ukraine und dem enttäuschenden Gipfel in Alaska Frieden geben?
Das ist nach wie vor die große Frage. Bei dem Treffen hat sich Donald Trump von Wladimir Putin um den Finger wickeln lassen. Er will als Friedensstifter in die Geschichte eingehen. Die Ukraine ist ihm jedoch völlig egal. Er hat wenig Sympathien für Wolodymyr Selenskyj und viel für Putin. Ein tatsächlicher Frieden kann nur dann entstehen, wenn es einen Waffenstillstand und glaubhafte Sicherheitsgarantien gibt. Es muss klar sein, dass Russland die Ukraine in einigen Jahren nicht wieder angreift. Genau das ist aber zu befürchten.
Woraus leiten Sie das ab?
Russland stellt weiter große Zahlen an Panzern und Raketen her und ist nie von dem Ziel abgerückt, die Eigenstaatlichkeit der Ukraine zu beenden. Okkupation ist kein Frieden. Die Ukrainer in den besetzten Gebieten wissen genau, was das bedeutet. Dort herrscht Zwang, es werden Gefängnisse errichtet. Grundsätzlich ist es ganz einfach: Sobald man den Aggressor belohnt, wird ihn das motivieren, weiter Kriege zu führen.
Mit dem unberechenbaren Trump wird das schwierig.
Er ist gar nicht so unberechenbar. Aus irgendwelchen Gründen unterstützt er Putin, obwohl die republikanische Partei immer für einen russlandfeindlichen Kurs stand. Und Putin weiß sehr genau, wie er mit Trump umgehen muss – sobald er über die Fehler von Joe Biden oder der westlichen „Mainstreammedien“ spricht, gibt es Konsens. In den russischen Medien dagegen wird die USA verflucht und als Erzfeind gebrandmarkt. Das scheint manchen Amerikanern nicht bewusst zu sein.
Für viele Menschen sind die Berichte aus dem Land im Krieg längst Alltag geworden. Wie war es für Sie, als Couchsurfer durch das Land zu reisen?
In den Reportagen von der Front erfahren wir, wie es den Soldaten geht. Der Alltag der Ukrainer kommt immer weniger vor. Das Besondere an meinen Reisen ist, dass ich ganz tief in den Alltag eindringen kann. Das ist wichtig, um empathischer zu verstehen, was ein Angriffskrieg bedeutet. Wir im Westen werden immer offener für einfache Lösungen, die Frieden versprechen. Am Anfang war der Überfall auf die Ukraine ein Schock. Mittlerweile ist unser Ungerechtigkeitsempfinden abgeschwächter. Man hat andere Themen im Kopf. Durch emotionale Berichte über meine Erfahrungen in der Ukraine kann ich zeigen, was für eine wahnsinnige Ungerechtigkeit dort passiert.
Sie erzählen von bewegenden Momenten. Eine Anwältin, die sich in einer Hilfsorganisation engagiert, schaut sich abends Videos getöteter russischer Soldaten an, um runterzukommen. Ein Mann geht nicht mehr in Bunker, weil er darauf spekuliert, dass sein Haus nicht getroffen wird. Was macht der Krieg mit den Menschen?
Der Krieg ist eine Art von Alltagssituation geworden. Leben und Tod werden ganz anders bewertet. Jedem ist klar, dass es morgen vorbei sein könnte. Davon ist das ganze Leben bestimmt. Die ständige Anspannung ist kaum auszuhalten. Gleichzeitig sind die Menschen so resilient, dass sie sich kognitiv daran gewöhnen und versuchen, so weit wie möglich ihren Alltag weiterzuleben. So können sie funktionieren. Sie haben auch gar keine andere Wahl. Von dem Dauerstress hat jeder gesundheitliche Probleme – psychisch und körperlich.
Ihre Ex-Freundin ist Ukrainerin. Wie eng ist Ihr Kontakt in das Land heute?
Ich habe nach wie vor viel Kontakt zu den Menschen, die ich in der Ukraine getroffen habe. In anderen Ländern, die ich bereist habe, verlieren sich die Kontakte oft. Hier ist es jedoch so: Ich lese morgens in den Nachrichten etwas über erneute Raketenangriffe. Direkt danach schreibe ich die Menschen in den betroffenen Städten an, um zu erfahren, ob sie es überstanden haben.
Wie nehmen Sie die Debatten in Deutschland wahr, wo etwa die Linke fordert, man solle mit Putin verhandeln und keine Waffen mehr an die Ukraine liefern?
In Deutschland gibt es viele Menschen, die es für logisch halten, der Ukraine keine Waffen mehr zu liefern und dadurch zu einem Frieden zu kommen. Doch dann würde Russland die Ukraine überrennen. Selbstverständlich würden sich die Ukrainer das nicht bieten lassen. Der Krieg würde sich ausweiten Richtung Westen. Viele Menschen in Deutschland verstehen nicht, was ein Angriffskrieg bedeutet. Es bedeutet: Die eine Seite hat Waffen und wird sie auch benutzen. Vor fünf Jahren hätte ich jede Unterschriftensammlung unterzeichnet, die fordert, dass Deutschland keine Waffen mehr in die Welt schickt. Das war naiv. Ein Land, das sich in einer Situation wie die Ukraine befindet, muss sich verteidigen können. Sonst sind wir am Ende der bisherigen Weltordnung angekommen. Ein Angriffskrieg kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Sonst werden Angriffskriege zu einem Erfolgsrezept, und es werden viele weitere folgen.
Sie haben einmal gesagt: „In einer halben Stunde in einem fremden Wohnzimmer lerne ich mehr über das Land, als ich es auf einer zweiwöchigen Rundreise jemals könnte.“ Ist das wirklich so?
Zumindest manchmal kann das so sein. In China gab es eine solche Situation: Meine Gastgeberin und deren Mutter nahmen gegensätzliche Rollen ein – die eine war für den Regierungskurs, die andere dagegen. Es war unfassbar spannend, ihre Gespräche zu verfolgen. In einer halben Stunde habe ich gelernt, wie im Land gedacht und argumentiert wird.
Dafür können Sie sich wahrscheinlich nur schwer zurückziehen, sondern müssen ständig mit den Gastgebern sozial interagieren. Ist das nicht total anstrengend?
Es ist schon anstrengend, ja. Man will ja ein guter Gast sein und nicht nur nach dem Wlan-Passwort fragen und sich dann auf sein Zimmer zurückziehen. Man will interagieren. Weil das einen fordert, gehe ich normalerweise zwischendurch immer wieder für einige Tage ins Hotel. Diese Pausen brauche ich. In Kiew war ich zwischendurch regelmäßig bei meiner Freundin.
Sie waren auch schon in Russland, Saudi-Arabien und im Iran unterwegs. Was macht autoritäre Systeme für Sie so interessant?
Dort kann ich viel mehr lernen über die Welt als in Ländern wie Spanien und Italien, wo die meisten Regeln ähnlich sind wie in Deutschland. Ich will verstehen: Wie lebt es sich im Alltag in einer Diktatur? Was sind die kleinen Freiheiten, die die Menschen dort haben? Wie blicken sie auf die Welt draußen? Dabei geht es mir nicht um den Adrenalin-Kick oder gefährliche Abenteuer. Vielmehr habe ich ein journalistisches Interesse.
Wie gefährlich ist das?
Die Ukraine war schon eine andere Liga. Ich hatte es vorher immer ausgeschlossen, in ein Kriegsgebiet zu reisen. Durch die Beziehung zu meiner Ex-Freundin war ich aber nun sowieso häufig dort. Ich habe mich langsam an das Risiko herangetastet. Manchmal habe ich mich schon gefragt: Was mache ich eigentlich hier? Ist das nicht wahnsinnig? Gleichzeitig wollte ich aber die Geschichten erzählen, weil mir die Schicksale der Menschen sehr nahegingen.
Sie werden bald 46. Wann ist man zu alt für Couchsurfing?
Manchmal fühle ich mich wie der Couchsurfing-Opa. Die meisten Menschen, die das machen, sind zwischen 20 und 35. Mittlerweile merke ich: Mein Rücken macht es weniger gut mit, auf unbequemen Sofas zu schlafen. Trotzdem finde ich es wichtiger denn je, Kontakte mit Menschen aus anderen Kulturen zu haben. Weil die Algorithmen des Internets die Skurrilitäten und das Schreckliche in den Vordergrund rücken, vergessen wir, wie die Realität in anderen Ländern aussieht.
Wo übernachten Sie in Kassel?
Ich werde nach der Veranstaltung noch nach Hause fahren. Wenn ich Vorträge mache, übernachte ich meistens im Hotel, aber manchmal schlafe ich auch in Deutschland in fremden Wohnzimmern.