Stolperschwellen-Verlegung in Bad Wildungen
Erinnerungskultur in Nordhessen: Im Gespräch mit Nachfahren deportierter Wildunger Juden
Kassel / Bad Wildungen, 30.01.2023. In der nordhessischen Stadt Bad Wildungen wird am Mittwoch, den 1. Februar, mit der Verlegung einer Stolperschwelle am Bahnhof der von dort aus während des Nationalsozialismus deportierten Jüdinnen und Juden gedacht.
Der im Jahr 1884 eröffnete Kopfbahnhof von Bad Wildungen war in der Zeit des Nationalsozialismus Ausgangspunkt für die Deportation jüdischer Mitmenschen, die über eine Sammelstelle in Kassel in Konzentrations- und Vernichtungslager gebracht wurden. Der Transport verließ Bad Wildungen am 15. November 1939. Auf Initiative des Bad Wildunger Geschichtslehrers Johannes Grötecke und Nachfahren der damals Deportierten soll an genau dieser Stelle mit einer Stolperschwelle an die dunkle Vergangenheit
Deutschlands erinnert werden.
Unter den Frauen, Männern und Kindern, die von hier aus in den Tod geschickt werden sollten, waren auch die Eltern von Erika Mannheimer, die selbst von Korbach aus ins Sammellager nach Kassel gebracht wurde. Von dort wurde sie 1941 deportiert und überlebte Konzentrationslager und den Todesmarsch. Nach dem Krieg emigrierte sie 1946 in die USA. Ihr Sohn Richard Oppenheimer, der dort 1950 geboren wurde, ist einer der drei Nachfahren, die bei der Verlegung der Stolperschwelle anwesend sind und der Initiative „Offen für Vielfalt“ ihre Familiengeschichten erzählen werden.
Richard Oppenheimer erfuhr von der langen Odyssee seiner Mutter erst nach deren Tod, als er ihren Nachlass ordnete. Seit vielen Jahren forscht er bereits zu seiner Familiengeschichte, hat Tagebücher und Zeitzeugen Dokumente gesichtet und ist auf den Spuren seiner Mutter von Bad Wildungen nach Riga gereist, wohin sie 1941 in das dortige Ghetto deportiert wurde. In Bad Wildungen wird er nun von seiner Recherche berichten, denn er hat vieles, was unbekannt schien, ans Licht gebracht.
Eine bewegte Familiengeschichte haben auch Eva Flörsheim und Daniel Kaufmann, die sie bei der Stolperschwellenverlegung schildern werden. Die gebürtige Schwedin Eva Flörsheim konvertierte zum Judentum und lebte lange Zeit mit ihrem Partner in Israel. Die Familie ihres Mannes lebte in Bad Wildungen und fiel zum großen Teil dem Holocaust zum Opfer. Daniel Kaufmanns Großvater praktizierte als Arzt in Bad Wildungen, flüchtete vor den Nazis in die Schweiz und kehrte nach dem Krieg nach Deutschland zurück.
Unterstützt wird die Initiative „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung“ bei den Interviews von Schülerinnen und Schülern der Alten Landesschule Korbach sowie der Ense-Schule Bad Wildungen, die sich auch im Unterricht mit der Geschichte des Nationalsozialismus befasst haben.
Das Regierungspräsidium Kassel ist Mitglied und Kooperationspartner bei „Offen für Vielfalt“. Regierungspräsident Mark Weinmeister lobt das Engagement und den Wissensdrang der Jugendlichen: „Die ungeheuerlichen Verbrechen von Deutschen an unseren jüdischen Mitmenschen vor nun mehr 80 Jahren machen bis heute fassungslos. Dieser Vergangenheit müssen wir uns immer wieder stellen, sie darf auf keinen Fall in Vergessenheit geraten. Leider gibt es auch heute noch Menschen, die den Holocaust leugnen oder relativieren.
Deshalb ist es so immens wichtig, das Wissen über den Nationalsozialismus und die Shoah fest im Unterricht zu verankern, damit keine Schülerin und kein Schüler die Schule verlässt, ohne etwas über dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte gelernt zu haben. Heute gedenken wir hier der vertriebenen und ermordeten Juden aus Bad Wildungen und die junge Generation der Stadt trägt mit ihrer Teilnahme aktiv zur Programmgestaltung bei. Das ist ein wichtiges Zeichen, denn Erinnern bedeutet auch, sich mit dem Wissen über die Vergangenheit heute gegen Hass und Ausgrenzung zu stellen.“
Mit der Stolperschwelle will der Künstler Gunter Demnig, der seit 1996 europaweit rund 100.000 Stolpersteine verlegt hat, die bitteren Geschichten von Flucht, Vertreibung und Vernichtung in Erinnerung rufen.
Demokratischer Diskurs an der Stolperschwelle
Alle interessierten Zuhörerinnen und Zuhörer sind im Nachgang an die Verlegung der Stolperschwelle eingeladen, im direkten Gespräch mit Richard Oppenheimer, Eva Flörsheim und Daniel Kaufmann am Demokratie-Mobil von „Offen für Vielfalt“ mehr über die bewegenden Familiengeschichten zu
erfahren und offen gebliebene Fragen zu stellen.
Das Demokratie-Mobil, mit dem das Toleranzbündnis seit letztem Sommer unterwegs ist, um auch die Regionen Nord- und Osthessens zu erreichen, zeigt so seine Vielseitigkeit. „Wir waren mit dem Demokratie-Mobil bereits an Schulen und hatten neben Infomaterialien auch einen „echten“ Bundestagsabgeordneten an Bord, um Demokratie erlebbar zu machen und den Jugendlichen einen authentischen Austausch zu ermöglichen“, erklärt Dagmar Krauße, Sprecherin der Initiative „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung“.
„Hier in Bad Wildungen dient es nun als mobiles Interview-Studio und als Ort, an dem sich Menschen, wie hier Nachkommen jüdischer Deportierter mit jungen Schüler:innen, begegnen können. Das ist für uns ein neuer Einsatzbereich, über den ich mich sehr freue.
Denn dieser reale Austausch, die Erfahrung, dass hinter historischen Fakten Gesichter und Lebensgeschichten stehen, ist ungemein wichtig, und ich bin überzeugt, dass sie ein besseres Handeln und Miteinander in der Zukunft fördern.“
Das erwartet Teilnehmende bei der Stolperschwellen-Verlegung
Begleitet wird die Verlegung der Stolperschwellen, zu der alle Interessierten aus Bad Wildungen und der Region eingeladen sind, von einem vielfältigen Programm, das von Johannes Grötecke organisiert wurde und um 12 Uhr beginnt.
Es werden Dokumente von Jüdinnen und Juden gezeigt sowie ein Theaterstück von Schülerinnen und Schüler der Ense-Schule Bad Wildungen präsentiert. Zudem werden der Kasseler Regierungspräsident Mark Weinmeister, der amtierende Bürgermeister Bad Wildungens Ralf Gutheil und Kreisausschußmitglied Hannelore Behle Grußworte sprechen. Musikalisch wird das Event von Musikern aus Guxhagen begleitet.